Eine Jura-Vorlesung

Aus einer zeitgenössischen Jura-Vorlesung (zum Erbrecht) am Talyras-Arechaireon in Pellas

 

Wenn wir die Vielzahl der Textzeugnisse aus dem antiken Demar betrachten, können wir dieses umfangreiche Corpus in viererlei Gattungen einteilen: Die Tempelliteratur, die mathematisch-zauberische Literatur, die Steuerliteratur und den recht beschaulichen Bereich der Privatliteratur. Aus diesen vier Gattungen ragt die Tempelliteratur als größte auf uns gekommene Textgattung hervor – was aber vor allem ihrem vorherrschenden Medium, den Wänden der Tempeltürme und anderen Tempelgebäude geschuldet ist.

 

Nun fragen Sie sich vermutlich gerade, warum ich Ihnen hier über die antiken demarischen Literaturen referiere. Nein, Sie haben sich nicht im Saal geirrt und ich sehe ihrem Jura-Professor auch nicht nur ähnlich, ich bin es in der Tat.

Sie wissen aufgrund ihres Trimesterplanes, dass wir heute mit einer Reihe von Vorlesungen über Testamente beginnen wollen und genau hier finden wir unseren Bogen zu den demarischen Tempeltexten der Antike.

Für die alten Demarer waren Testamente bedeutsame Akte, die freilich nur für den Adel eine Rolle spielten, aber die dennoch öffentlich sichtbar angebracht wurden. Die Archäologen haben ganze Tempeltürme gefunden, die nur der Anbringung von Testamenten und nicht dem eigentlichen Kult dienten. Testamente waren Verträge, die der Erblasser nicht mit den Erben schloss, sondern zu deren Gunsten mit den Göttern selbst. Je wichtiger der Erblasser, desto mehr Götter rief er in seinem Testament an, aber das soll uns als kleine Anekdote am Rande genügen.

 

Vergleichen sie mal die imposanten Tempeltürme oder selbst deren spätere Nachfolger, die Testament-Obelisken, mit der heutigen Form unserer Testamente! Sie können in einer Kneipe ihr Testament auf einem Bierdeckel niederschreiben und solange sie ihre Unterschrift und einen ihrer blutigen Fingerabdrücke nicht vergessen, haben sie ein rechtsgültiges Dokument! Das können sie unter ihrem Kopfkissen lagern, in ein Buch im Regal stecken oder tagtäglich als Untersetzer benutzen, bis Sie dann irgendwann dahinscheiden. Welch ein gewaltiger Schritt! Vom Tempelturm zum Bierdeckel.

 

Nun mögen Sie sich denken: Erstens, heute gibt es mehr, die ihr Erbe zu regeln haben, und zweitens, es gibt ja aufgrund der heutigen Testamentsform auch mehr juristische Auseinandersetzungen.

Zu ersterem Gedanken muss ich Ihnen zustimmen. Aber beim Zweiten sind wir wieder in der demarischen Literatur, genauer in der Gattung der Privatliteratur, die uns nämlich von zahlreichen Erbstreitigkeiten berichtet! Die großen Testamentreliefs waren keine Garantie dafür, dass niemand ihre Rechtmäßigkeit anzweifelte, auch wenn die Hürden vielleicht etwas höher ausfielen.

 

Was wir uns – am Anfang unserer Reihe – vor Augen führe müssen: Nach dem Tod eines Geliebten Menschen, können sich auch liebende Geschwister um die Hinterlassenschaft zanken, wie ein Haufen Schäckerdrachen um einen silbernen Löffel!

Daher werden sie im Verlauf dieser Reihe einen Überblick darüber erhalten, welche Anforderungen an ein Testament gestellt werden, wann die staatliche Erbfolge, das so genannte „Zwangstestament“, eingreift und welche wichtigen Präzedenzfälle unsere heutige Rechtsauffassung gebildet haben. In diesem Zusammenhang werde auch mit einigen Mythen aufräumen – Sie haben sich sicherlich schon gefragt, ob es wirklich eine „10-Minuten-Regel“1 gibt!

Doch, um die Form dieser Veranstaltung zu wahren und dem Anspruch unserer ehrenwerten Fakultät gerecht zu werden: Holen sie sich jetzt bitte ihre Schreibwerkzeuge und Hefte, damit ich ihnen die Paragraphen zum Erbrecht aus unserem derzeit gültigen Gesetzteswerk diktieren kann!

 

Ja, Sie brauchen gar nicht stöhnen, ich halte dieses Prozedere auch für antiquiert, aber die Lehrväter bestehen darauf und Sie wissen, dass ihre Hefte auf Vollständigkeit geprüft werden, bevor ihnen diese Veranstaltung angerechnet wird, also: Zähne zusammenbeißen!

 

So, sind alle bereit: [...]