Leuas Gudis
Als sein Kopf auf dem Buch aufschlug und er den Staub der uralten Worte einatmete, erwachte er in Dunkelheit und Stille. Waren alle anderen schon fort, hatten ihren Schlaf in den gemütlicheren Betten des Wohnheims gefunden? Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und streckte sich, doch als er das Buch zugeklappt und sich erhoben hatte, bemerkte er, dass er nicht länger in der Bibliothek war.
Die Dunkelheit um ihn herum war ein fester Raum aus Leere und er stand inmitten einer Kreuzung aus Wegen, deren gelbe Pflaster wohl vergilbte Pergamentseiten waren. Jeder der Wege führte auf eine große schwere Tür zu, die ohne Rahmen in der Leere stand. Da war ein Weg an seiner Linken und einer an seiner Rechten, einer vor ihm und einer hinter ihm, doch noch fünf weitere Wege führten in Richtungen, deren Namen er nicht kannte.
Er wunderte sich, dass er sich nicht wunderte, und machte einen einen Schritt auf den inneren Weg. Dass es der innere Weg war, wusste er in dem Moment, da sein linker Fuß das Pflaster berührte und in diesem Moment lösten sich die anderen Wege im dunklen Nichts auf. Seine schnellen Schritte führten ihn langsam über die gewundenen Pfade des gerade Weges und nach einer kurzen Ewigkeit hatte er die Tür erreicht.
Hoch wie ein Haus türmte sich die kleine, schmale Tür vor ihm auf, die, obwohl aus Eisen gemacht, die untrüglichen Muster von Holz zeigte. Anstelle eines Knaufes besaß sie einen goldenen Ring, an dem er zog, um sie zu öffnen.
Das Knarren der Tür kroch unter seine Haut und vibrierte in der Dunkelheit in ätherischen Tönen, doch er spürte keine Furcht. Als er die Tür aufgezogen hatte, sah er die dutzenden Wege dahinter, die in bekannten und unbekannten Richtungen auf dutzende Türen hinführten. An jeder Tür hing ein Schild mit seltsamen Zeichen, die er, obwohl er sie noch nie gesehen hatte, lesen konnte: Da waren Türen die zu Zeitorten führten und andere, die zu Personenzeiten führten und wieder andere die zu Nichtorten oder Nichtzeiten führten.
Während er da stand, auf der Schwelle, da sah er einen Schäckerdrachen auf einem der Wege fliegen. „Zu spät, zu spät“, schäckerte der kleine Drache und lugte im Fluge auf das Ziffernblatt seiner grotesk großen Uhr. Mit panischen Flügelschlägen strebte es auf eine der Türen zu, die dem Schild nach zu einem Nichtort führte, und als er auf die Tür zuflog, da öffnete sie sich und verschluckte ihn.
Neugier war es, die ihn trieb dem Weg des Schäckerdrachen zu folgen und mit schnellen Schritten näherte er sich der nahfernen Tür, die sich auch für ihn öffnete, ihn verschluckte und im gleichen Moment wieder ausspuckte.
Er wunderte sich, dass er sich nicht wunderte, denn er wusste, was er nicht wissen konnte: Er war zu spät. Da machte er einen Schritt auf die Tür, die sich öffnete um ihn erneut zu verschlucken und sagte dem Türschlund: „Es ist noch Zeit.“ Und aus dem leeren Dunkel hallte es wieder: „Es ist noch Zeit.“ Da verschluckte ihn die Tür.
Dann spuckte ihn die Tür aus und er stand in einem Wald aus Worten. Die Buchstaben schlugen ihre Wurzeln in den papierenen Boden und trieben zu wunderbaren Konsonantenblättern und Vokalblüten aus. Punktbienen schwirrten umher, um Bedeutungen aus den Vokalblüten zu saugen und gebieterische Ausrufezeichenlibellen surrten durch die wissende Landschaft. Und in der Ferne sah er den Schäckerdrachen mit seiner riesigen Uhr fliegen, dessen „Zu spät, zu spät“ von den Anführunszeichenvögelchen nachgeträllert wurde.
Neugier war es, die ihn trieb dem Weg des Schäckerdrachen zu folgen und mit schnellen Schritten seinem Weg zu folgen. Während er durch den Wortwald eilte, begann es Phone zu regnen. Doch obwohl er seine Kleider im Wachen zurückgelassen hatte, wurde er nicht laut.
Sein Weg führte ihn an erbaulichen Wortgewächsen vorbei, die hübsch anzuschauen waren, und liebreizenden, die ihm schmeichelten. Instinktiv schien er die härteren zu meiden, mit ihren beleidigenden Dornen. Da waren auch Trockene und Gähnende, doch die nahm er kaum war. Und nachdem er viele Seiten hinter sich gelassen hatte, kam er zu einer Lichtung auf der eine kleine Hütte stand, deren spitzes Dach von einem alten Ledereinband gemacht war und aus dessen Kamin verrauchte Buchstaben stoben. Und er sah noch die große Uhr des Schäckerdrachen durch die Pergamenttür verschwinden, die ins Innere führte.
Neugier war es, die ihn trieb dem Weg des Schäckerdrachen zu folgen und mit schnellen Schritten ging er auf die Tür zu, klopfte und das nächste Kapitel öffnete sich ihm.
Auf der Schwelle stand gebeugt vom Alter ein Zauberer und Alessas wunderte sich, dass er sich nicht wunderte ihn als solchen zu erkennen, sah er doch anders aus als jeder andere Zauberer, den er je in seinem Leben gesehen hatte. Gestützt auf seinen knorrigen Stab war unglaublich klein, doch selbst wenn er aufrecht gestanden hätte, hätte er ihm nur bis zum Schritt gereicht. Seine Robe war alt und zerschlissen, ähnelte eher dem Gewand eines vorzeitlichen Bauern als dem prachtvollen Ornat eines Zauberers. Doch seine Augen waren groß, weil sie viel gesehen hatten und seine Haut faltig vor Erfahrung, sein Haar weiß vor Verstand. Seine grüne Haut bemerkte Alessas erst, als der Alte ihn begrüßte.
„Rechtzeitig!“, sagte der Alte, „Wen aber sehe ich vor mir?“
„A-Alessas“, stammelte er, „Schüler der magischen Wissenschaften“
„Ja, das sehe ich auf deinem Mantel. Aber herein mit dir, im Wald ist es gefährlich!“
Alessas wunderte sich: „Aber ich habe keine Gefahr gesehen?“
Der Alte schüttelte den Kopf und klopfte mit seinem Stock gegen Alessas‘ Bein.
„Rein mit dir! Erklärung erhältst du, wenn du Platz genommen hast“, sprach der Alte und deutete auf die kleine Tafel.
Neugier war es, die Alessas Platz nehmen ließ.
„Der Wald ist voller Gefahren“, sprach der Alte, spähte hinaus und schloss dann die Tür, „Allerlei gefährliche Leute treiben ihr Unwesen dort. Gärtner und Hirten, Kaufleute, Jäger und die schlimmsten von ihnen: Holzhacker!“
„Gärtner? Was ist so schlimm an Gärtnern?“, wunderte sich Alessas.
„Gefährlich sind Gärtner, denn sie hegen und pflegen das, was ihnen brauchbar und nützlich erscheint und sie schneiden ab, was für sie nicht gut und nützlich ist. Aber was ist das, das Gute? Ist das, was der Gärtner gut nennt, auch das, was du gut nennst? Ist der Trieb, den der Gärtner fördert, der, der dir nützlich ist, oder nur ihm? Freundlich wirkt der Gärtner, aber er denkt nur an sich und nicht an dich.“
Alessas wunderte sich: „Und Hirten? Hirten passen doch auf ihre Schützlinge auf? Was soll daran schlecht sein?“
„Gefährlich sind Hirten“, sprach der Alte und brach dabei ein Stück Brot, das er Alessas hinhielt, „denn sie lassen dich auf saftiger Weide fressen und schirmen dich ab vor Wölfen, schlechtem Wetter und den Drohnissen der Natur, doch wenn sie dich genug haben währen lassen, bringen sie dich zum Schlachter.“
Alessas aß das Brot und erkannte, dass es ihn kräftigte und noch mit vollem Mund fragte er: „Und Kaufleute?“
„Der Kaufmann ist gefährlich, denn er treibt Handel mit dem, was er nicht selbst gemacht hat. Seine Waren haben andere gemacht und mögen heute noch wertvoll sein, doch morgen bereits verdorben und wertlos, und er selbst hat nichts dagegen zu tun. Heute ist er reich, doch Armut droht ihm immer zu, so dass er getrieben ist, den Wert seiner Waren zu preisen.“
Alessas schluckte, denn er hatte begonnen, den Sinn hinter den Worten des Alten zu verstehen.
„Der Jäger“; fuhr der Alte mit einem verstehenden Lächeln fort, „strebt seinem Ziel nach und tötet es. Seine Gefahr ist dir bewusst, auch wenn du erst jetzt erkennst, wer deine Jäger waren. Doch jetzt, wo du es erkennst, weißt du, dass du auf der Hut sein musst, selbst im eigenen Heim und gerade dort.“
Der Alte reichte Alessas einen Becher Milch und dieser trank und als er getrunken hatte, sagte er: „Der Holzhacker ist gefährlich, denn seine Axt spaltet und zerlegt, was im Wald gewachsen ist“ Und dabei dachte er an die Wortbäume, die draußen das Haus umgaben. „Sie töten, was lebendig gewachsen ist und bringen es zu einem zerstückelten Ende, doch ihr Ziel ist nur einseitig und seine kostbare Vielfältigkeit verloren.“
Da lächelte der Alte und nickte. Auf seiner Schulter nahm da der Schäckerdrache Platz und seine große Uhr verdeckte den Alten fast ganz. „Rechtzeitig!“, schäckerte der Drache, „Rechtzeitig“.
„Die Gefahren im Wald“, fasste Alessas zusammen, „sagst du, sind die Menschen in meinem Leben, die Eltern, Lehrer und Freunde. Doch machen sie mich nicht zu dem, der ich bin?“
„Zu dem der bist, machen sie dich“, nickte der Alte, „aber auch zu dem, der du sein sollst? Sie alle haben an dem Mantel gewirkt, den du trägst, doch wer steckt unter dem Mantel? Rechtzeitig hast du deinen Weg zu mir gefunden, nicht zu spät ist es, den fremden Mantel abzustreifen, denn jeder sollte nur den Mantel tragen, den er selbst gewirkt hat.“
Da blickte Alessas an sich herab und wunderte sich, denn er war noch immer nackt und trug keinen Mantel, nicht mal ein Hemd. Der Alte schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Sag nicht, du trügest keinen Mantel, denn ich sehe ihn genau.“ Aber Alessas wunderte sich.
„Du weist, warum ich hier bin?“, er sah den Alten nicken, „Ich weiß es doch nicht einmal selbst.“
„Dein Kommen war angekündigt und dein Weg ist noch offen. Die Holzhacker haben ihr Tagwerk noch nicht beendet und du kannst deinen Weg noch finden. Iss noch vom Brot und trink von der Milch und dann mach dich auf.“
„Welcher Weg? Wohin soll ich gehen?“, wunderte sich Alessas.
„Zuerst musst du den Fischer finden und lernen zu fischen. Wenn du das erlernt hast, geh zum Weber und wenn er dir sein Werken erklärt hat, geh zum Schneider. Er lehrt dich dir Hemd und Kleid und Mantel zu fertigen und diese brauchst du, denn dann musst du den schweren Weg zum Schmied machen, der dir zeigt dein Schwert zu schmieden, und auch das wirst du brauchen. Ohne das alles wird der Ritter dich nicht erkennen, doch seine Hilfe brauchst du, da nur er dich lehren kann diesen Ort wieder zu verlassen. Rechtzeitig bist du gekommen, doch du musst dich eilen, bevor es zu spät ist. Die Räuber sind schon ausgezogen und der König hat von deiner Ankunft Kenntnis erlangt. Hüte dich vor ihm und betrete niemals sein Schloss, denn er wird dich nicht gehen lassen.“
Da aß Alessas vom Brot und trank von der Milch und stärkte sich und erkannte das nächste Kapitel, das vor ihm lag und machte sich auf den Weg, es zu erreichen.