Das Lied des Toten Gottes (Prosafassung)

 

 

„Das Lied des Toten Gottes“ ist eines der bekanntesten arbarischen Götterlieder. Es wurde durch die Jahrtausende überliefert und noch später auch in Prosa gefasst, als der alte Glaube der Arbaren selbst längst in Vergessenheit geraten war. Die im Folgenden dargelegte Prosafassung stammt aus dem frühen Mittelalter, sie enthält im Gegensatz zu späteren Bearbeitungen wenig bis keine Einflüsse der Asiranisierung und kommt der ursprünglichen Gestalt des Mythos wohl am nächsten: Es geht um das Missverständnis, das zum Tod Vîrvarders führte und das die Entstehung des Menschen erst ermöglichte.

(Siehe auch: Das Lied des Toten Gottes)

 

In der Urzeit war der Kraken noch nicht im Meer und der Wald erstreckte sich überall auf dem Land. Die Menschen kannten noch keine hölzernen Zäune und keine steinernen Bauten. Sie lebten im Wald mit den Tieren und waren selbst wie Tiere; kannten keine Wörter und keine Götter.

 

In den Leuchtenden Hallen des Himmels lebten die Götter und blickten auf die Menschentiere herab. Hin und wieder fuhren sie nieder, um die Menschentiere zu besuchen und waren von ihnen nicht zu unterscheiden. Einer von ihnen, Vîrvarder, hatte Mitleid mit den Menschentieren und wollte ihnen einen kleinen Teil des göttlichen Wissens schenken. Er wollte ihr Ausbilder sein und sie lehren feste Behausungen zu errichten, wollte sie Worte lehren, damit sie sich miteinander und mit den Göttern verständigen können.

 

Vor dem Rat der Götter trug er seine Bitte vor, doch die anderen Götter lehnten seinen Wunsch ab. Doch Vîrvarder missachtete den Ratschluss und fuhr herab auf die Erde. Er irrte durch die Wälder und stieß nach drei Tagen auf eine Gruppe der Menschentiere. Sie hatten einen Hirsch erlegt und labten sich an seinem rohen Fleisch und waren durch ihr Festmahl so ergriffen, dass sie zunächst nicht bemerkten, dass Vîrvarder sich ihnen näherte.

 

Als Vîrvarder zu den Menschentieren trat, schreckten sie auf und richteten ihre Speere fauchend und kreischend in seine Richtung; ihre Beute vor dem Fremden schützend. „Ich bin Vîrvarder“, sprach der Gott, „ich komme in Frieden und will euch lehren, wie die Götter zu sein.“ Doch die Menschentiere, die kein Wort kannten, verstanden den Gott nicht und fauchten und kreischten nur umso wilder.

 

Vîrvarder hob seine Hände und ging näher heran. „Ich will euch nichts tun, ich will euch helfen“, sprach der Gott. Die Menschentiere aber fauchten und kreischten und hüpften wild umher. Der Gott lächelte sie an, doch da schrie der Anführer des Menschenrudels laut und stieß ihm den hirschblutigen Speer zwischen die Rippen. Und auch die anderen Menschentiere kreischten und stieße ihre Speere in den Leib des Gottes.

 

Der Gott wollte sprechen, doch statt Worten spuckte er Blut. Er taumelte zurück und fiel mit dem Rücken gegen einen Birkenbaum. Die kreischenden Menschentiere aber stachen weiter auf den Gott ein, bis aus dem Geäst der Bäume ein Schwarm Vögel geflogen kam. Die Vögel nämlich hatten den Gott erkannt und wussten, dass er den Menschentieren kein Feind war. Sie versuchten mit ihrem Brustgefieder die blutenden Wunden zu stillen, doch ihr Werk war vergebens. Vîrvarder starb am Birkenbaum. Den edlen Helfern blieb nur die rotgefärbte Kehle als Zeichen ihrer vergeben Güte.

 

Die Menschentiere hüpften und kreischten und labten sich weiter am Hirsch, brachen seine Knochen und schlürften sein Mark. Doch als der Hirsch verzehrt war und sie immer noch hungrig waren, blickten sie auf den toten Gott und hüpften kreischend auf seine Leiche zu. Als das erste Menschentier seine Zähne in das Fleisch des toten Gottes schlug und sein Blut die Kehle des Menschentieres hinabfloss, hielt es inne. „Vîrvarder war dies“, sprach der Mensch, „er war ein Gott und wollte uns helfen.“

 

Die anderen verstanden nicht, bis auch sie vom Blut des toten Gottes gekostet hatten. Dann aber erkannten alle Menschen, was sie getan hatten und sie fürchteten sich vor dem Zorn der Götter in den Leuchtenden Hallen des Himmels. Sie schnitten den Leib des toten Gottes in Stücke und verstreuten sich. Damit der Zorn der Götter sie nicht finde, aber auch damit noch mehr Menschentiere durch das Götterblut zu Menschen würden; denn dies war das letzte Geschenk Vîrvarders.

 

In den Leuchtenden Hallen im Himmel blieb die Abwesenheit Vîrvarders nicht lange von den anderen Göttern unbemerkt. Ertius, der höchste und vornehmste Götter, wies Turanas an Okuls Spiegel nach Vîrvarder zu befragen und im Spiegel sahen die Götter in den Leuchtenden Hallen was auf der Erde vorgefallen war und waren traurig. Die Einen sagten: Der Mensch muss sterben für seine Tat; doch die anderen sagten: Es waren Tiere, sie wussten nicht was sie taten, jetzt sind es Menschen und durch Vîrvarders Blut sind sie uns gleich geworden, es ist nicht recht sie zu töten.

 

Darüber kam es in den Leuchtenden Hallen im Himmel zu einem großen Streit unter den Göttern. Die Menschen auf der Erde sahen viele Tage lang im Nachthimmel Blitze zucken und fürchteten sich sehr. Hier und dort fielen brennend die Trümmer der Leuchtenden Hallen herab und schlugen Lichtungen in den dichten Wald; denn der Streit der Götter war zu einem Krieg geworden.

 

Als die Leuchtenden Hallen verwüstet im Himmel waren, warf Ertius jene vom Himmel herab, die den Krieg begonnen hatten: Kjahullir fiel nieder; und Kattir und Surta und auch der Alte, den man heute den Schneevater nennt. Verstoßen aus den Leuchtenden Hallen schufen sie sich auf der Erde ein Heim und weil sie den Menschen noch immer zürnten, machten sie sich daran, sie zu vernichten.

 

Der Kjahullir lauerte ihnen fortan in den Gewässern auf, um sie zu ertränken. Der Kattir schlich in ihre Siedlungen, um sie zu fressen. Der Alte ließ die Gletscher wachsen und den Schnee fallen, um die ganze Welt in Eis zu hüllen. Die Surta flüsterte den Menschen ins Ohr, damit sie einander umbringen.

 

Die Götter aber, die in den Leuchtenden Hallen verblieben waren, blickten besorgt in die Splitter von Okuls Spiegel und sahen, wie leicht die Menschen ein Opfer der Verstoßenen, der Erdgebundenen Götter wurden. Um Vîrvarder zu ehren, beschlossen sie, den Menschen zu helfen. Doch die Götter fürchteten sich, sich den Menschen zu zeigen, fürchteten das Schicksal Vîrvarders zu teilen. Da ersann Ruck eine List: Wenn die Götter hinab zur Erde fuhren, sollten sie sich mit Fell und Feder, Kralle und Klaue als Tiere verkleiden; so könnten sie Hilfe leisten, ohne in die Gefahr zu geraten erkannt und getötet zu werden.