Der Aufstieg war anstrengend gewesen, Muskeln und Knochen schmerzten, er schnappte nach Luft. Mit einem lauten Seufzer ließ er sich nieder und den schweren Rucksack neben sich fallen. Im Westen versank bereits die Sonne.
Nachdem er sich einen Moment der Ruhe gegönnt hatte, begann er er die Apparaturen aus dem Rucksack auszupacken und setzte die bronzenen Röhren sorgsam, aber mit gebotener Eile zusammen. Das dunkle Blau der Nacht breitete sich vollends über dem Himmel aus, bis er fertig war und die Nachtsonne begann ihren Aufstieg. In ihrem Licht überflog er hastig die Sternentabellen, rechnete im Kopf einige der Angaben nochmal durch und begann dann mit Horizontzirkel und Lot das Fernrohr auf die richtige Stelle des Himmels auszurichten.
Ein Blick auf den Himmel sagte ihm, dass nur noch wenig Zeit bliebe. Er kramte das vergilbte Pergament hervor und begann das Mantra aus altem Phanechisch oder Demarisch zu murmeln, dass er sich über die fremden Zeichen geschrieben hatte. Bald begannen seine Augen den seltsamen Linien auf dem Pergament zu folgen, die mit jeder Wiederholung des Mantras deutlicher hervortraten, bald dem Pergament förmlich entstiegen, so dass er es mit Händen greifen und auf die Linse des Fernrohres ziehen konnte. Für einen Moment schien das Gewirr leuchtender und flirrender Linien sich in das Glas zu brennen, doch dann war es verschwunden. Er ließ das Mantra in ein „Hoffentlich klappt's“ übergleiten.
Schwindel und Übelkeit spülte er mit einem kräftigen Schluck Kräuterschnaps herunter und beugte sich dann zum Fernrohr, um hindurch zu sehen. Während er gespannt wartete, spukten die Stimmen seiner alten Lehrer durch seinen Kopf: „Der Arimuros oder wie er auch genannt wird 'Manchmal-Stern' ist natürlich nichts als eine Erfindung kreativer Phantasten. Wer auch immer meint, diesen Stern gesehen zu haben, hat sich schlichtweg geirrt, ihn mit einem anderen verwechselt. Und den alten Aufzeichnungen dürfen Sie ohnehin keinen Glauben schenken. Die Alten dachten doch tatsächlich, die Sonne kreise um die Toraja ...“
Die von immer heftiger pochendem Herzen untermalten Gedanken wurden abrupt unterbrochen: Ein kleiner Stern ging am Horizont auf.
Ihm stockte der Atem. Ein schneller Blick in die Aufzeichnungen. Icharunos noch nicht aufgegangen, Vinara am gewohnten Ort, die grüne Galia war zu dieser Jahreszeit nicht zu sehen.
„Ja!“ schrie er über den Gipfel. „Ich hab ihn!“
„Der Arimuros existiert!“, murmelte er und blickte wieder ins Fernrohr. Dieser kleine Lichtpunkt im dunklen Blau des Himmels schenkte ihm einen seltsamen Frieden, er fühlte sich diesem fernen Stern plötzlich so nah. Als wäre es sein Kind. Und in gewisser Weise, war er das sogar. Es hatte ihn Jahre der Forschung gekostet, die alten Berichte zu sichten, Berechnungen zu überprüfen und eigene Berechnungen anzustellen. Dieser Moment war die Krönung seines Lebens. Seine von vielen verspottete Theorie, dass der Arimuros auf einer äußerst schiefen Bahn um die Sonne kreise und viel seltener als andere Wandersterne am Himmel zu sehen war, hatte sich als richtig erwiesen. Er hatte recht. Alle anderen hatten unrecht. Am liebsten wäre er wie ein junger Gott den Berg herunter gehüpft und hätte es durch die nächtlichen Gassen gerufen.
Doch was war das? Für einen Moment hatte sich ein seltsames Wesen vor die Linse geschoben. Er fuchtelte vor dem Fernrohr herum. Doch es war kein Insekt … jedenfalls keines in seiner Nähe. Das Wesen musste oben im Himmel leben. Er blickte noch einmal durchs Fernrohr. Es war verschwunden. Er suchte es und fand es für einen Moment wieder. Ein seltsames dickliches Wesen mit vier schimmernden, schuppenbedeckten Flügeln, die es nicht schlug, es schien durch das Himmelsblau zu gleiten. Er konnte keine Augen ausmachen, nur eine schwer zu zählende Zahl an Fühlern, von denen einige abgebrochen waren. Ob sie eigenständig nachwuchsen? Doch noch in Gedanken, verlor er das Wesen aus der Sicht. Der Arimuros war plötzlich vergessen. Das seltsame Wesen am Himmel hatte sein Interesse geweckt.
In den kommenden Jahren gelang es ihm herauszufinden, dass das vierflügelige Sternenwesen auf einer Bahn um die Toraja zog, wie der Mond, aber schneller und vermutlich näher. Genau konnte er die Entfernung nicht einschätzen. Die ständige Zauberei, die leider notwendig war um das Sternenwesen durchs Fernrohr beobachten zu können, zehrte so sehr an seinem alternden Körper und seiner Psyche, dass er bald nur mehr wie ein Wahsinniger über das Sternenwesen im Himmelsblau schwafelte. Aber da nahmen ihn seine gelehrten Kollegen schon lange nicht mehr ernst. Hundert Jahre sollten vergehen, bis ein gelangweilter Student seine Aufzeichnungen über den Arimuros finden sollte und er, lange nach seinem Tod, als „Entdecker des dritten Planeten“ gefeiert werden würde.
Und noch einmal gut einhundert Jahre später würde man ihm auch das wahnsinnige Geseiere über das Sternenwesen verzeihen, als die Menschheit selbst in das Himmelsblau vorstieß und die Wahrheit über diese Sichtung herausfand.